Journeys

Ein Traum wird Realität

Als ich in die 7. oder 8. Klasse ging, fuhr ich auf Klassenfahrt und unser Lehrer las uns jeden Abend aus dem Buch:" Roter Mond und heiße Zeit" vor. Dies ist eine Liebesgeschichte, die in der Sahara spielt und von dem Nomadenleben und den Stammesritualen der Tuareg bzw. Tamaschek handelt. Ich war sehr berührt und bekam eine große Sehnsucht, einmal eine Reise auf Kamelen in die Sahara zu unternehmen. Meine Eltern hätten diesen Wunsch als "Flause" bezeichnet, wenn ich ihn geäußert hätte und so blieb er in meinem Herzen verborgen. Später erschien mir seine Verwirklichung unmöglich wegen Studium, kleiner Kinder, Hausbau etc., etc., aber der Wunsch war immer da und ich habe etliche Bildbände über die Sahara sowie andere Bücher über die Tuaregs gelesen.
Zu meinem  50. Geburtstag schenkte mir mein Mann eine Reise in die Sahara und nun sollte und konnte mein Traum Realität werden. Aber wie merkwürdig war es, dass ich mich jetzt mit meinen Ängsten konfrontiert sah, mit der Frage:" Wem vertraue ich mich an bei einer Reise durch die Wüste?"
Im Mai 2005 gab mir eine Freundin einen Hinweis auf den, im Winkel stattfindenden, Frauenkreis mit Viola und Loon. Es war meine erste Begegnung mit dem Schamanismus und als ich davon erfuhr, dass Viola und Loon schamanische Reisen in die Sahara veranstalten, war für mich klar, dass ich mit meinem Mann daran teilnehme.
Im Verlauf der Vorbereitungen begegnete ich auch immer wieder Ängsten, was in der Wüste, fernab jeglicher Zivilisation, passieren könne. Vor allem hatte ich Ängste vor der Begegnung mit mir selbst. Wie bin ich ungewaschen, schlecht riechend, ängstlich? Wie reagiere ich in gefährlichen Situationen? Werde ich in der Gruppe anerkannt? Usw., usw. Selbstverständlich überwog die Faszination, dass sich mein Traum jetzt erfüllen sollte.
Am 12. April 2006 war es dann soweit. Es waren seit meinem 50. Geburtstag 8 Jahre vergangen. Fast um Mitternacht landeten wir auf dem Flughafen von Djerba und wurden dort von Viola, Tayeb und der Gruppe in Empfang genommen. Das Gepäck wurde auf die Jeeps geladen, die Menschen verteilten sich auf die Fahrzeuge und als es losgehen sollte, sprang unser Jeep nicht an. "Na, Klasse, hätte man das Auto nicht vorher reparieren können?", dachte ich. Die Fahrer der Jeeps beeindruckte dies nicht, sie gaben uns zu verstehen, dass wir aussteigen und anschieben sollten, was wir auch taten und dann konnte es losgehen. Der Motor unseres Jeeps ging noch zweimal aus, beide Male als es bergauf ging im Sand und auch diesmal wurde das Problem gemeinschaftlich gelöst. Violas Kommentar dazu war:" Ihr müsst alle westlichen Standards, die ihr im Kopf habt, loslassen."  Die Hilfe und das Aufgehoben sein in der Gemeinschaft hat die gesamte Reise geprägt.
Es hatte geheißen, dass wir mit den Jeeps in ca. 4 Stunden durch die Wüste zu dem Standort der Kamele gebracht werden sollten. Diese Information stimmte jedoch nicht annähernd, denn zunächst mussten wir in anderthalb Stunden die Fähre erreichen, die uns aufs Festland von Tunesien bringen sollte und von da aus galt es in 4 Stunden unser Ziel zu erreichen. Ich war etwas verwundert über die, wie ich dachte, unvollkommene Organisation. Aber "westliche Standards loslassen" war ja die Devise und irgendwann konnte ich auch "loslassen". So gegen 6 Uhr morgens erreichten wir die, noch schlafende, Oase Ksar Ghilane. Hier machten wir eine Pause und ich erfuhr, dass von einer Teilnehmerin das Gepäck nicht angekommen war. Der Boutiquebesitzer wurde geweckt und wir konnten uns mit warmen Burnussen und Schals eindecken und die Frau ohne Gepäck, mit allem, was sie brauchte. Außerdem hat auch hier wieder die Gemeinschaft geholfen. Nach 90 Minuten ging es weiter mit den Jeeps. Während der Fahrt spürte ich meine wachsende Gelassenheit und so gegen Mittag erreichten wir das Quartier unserer Kamele mit ihren und unseren Begleitern. Der Anblick war wunderbar, ich hatte sofort Vertrauen zu diesen Menschen und obwohl seit 30 Stunden auf den Beinen, war ich hellwach, sehr zufrieden und in größter Freude darüber, dass jetzt die "richtige Reise" beginnen würde.
Ich will und kann hier nicht den Verlauf der gesamten Reise chronologisch wiedergeben, sondern nur meine Eindrücke zusammenfassen. Das Fazit möchte ich vorwegnehmen: Es war eine einzigartige, wunderbare, faszinierende Reise! Beeindruckend war die teilweise karge Landschaft, die aber dennoch eine reichhaltige Fauna und Flora aufweist. Neben den Bereichen mit feinstem Sand durchschritten wir auch steppige Gebiete, in denen wir viele verschiedene Käfer und noch mehr Spuren im Sand, sowie Insekten sahen. Kleine wunderschöne Blüten unterschiedlichster Art, Gräser und niedrige Sträucher machten die Vegetation aus. Nur ein Skorpion ist uns begegnet.
In der ersten Runde, in der Viola uns allgemeine Verhaltensregeln mitteilte, ging es darum zu verstehen, dass wir in den Lebensraum der Tiere  und Pflanzen eindringen und sie riet uns diese anzusprechen und um Erlaubnis zu bitten, dass wir zeitweilig in ihrem Lebensraum zu Gast sein dürfen.
Die Begegnung mit den Einheimischen war ebenfalls wunderbar. Sie sorgten für das leibliche Wohl, be- und entluden die Dromedare, führten uns mit sicherem Schritt durch die Wüste, waren sehr zugewandt und strahlten eine beneidenswerte und Weg weisende Ruhe aus. Ich fühlte mich wohl und sicher in ihrer Obhut und der Humor Tayebs (des Leiters) hat mir auch gut gefallen.
Die Dromedare, mit denen jede(r) auch spezielle Erfahrungen verband, denn die einheimischen Führer schauten sich am Beginn der Reise jede(n) von uns an und führte sie / ihn zu ihrem / seinem Dromedar, welches man die gesamte Reise behielt, sodass man eine Beziehung zu diesem stolzen, großen und starken Tier aufbauen konnte und auch seinen Spiegel bekam. Auf einem Dromedar zu schreiten ist majestätisch und gleicht einer Meditation.
Die Gruppe umfasste 20 Menschen, genauer 3 Kinder ( 9 und 13 Jahre), 11 Frauen und 6 Männer zwischen 16 und 65 Jahren. Ich fühlte mich in der Gruppe angenommen. Selbstverständlich sind Menschen, die an einer schamanischen Wüstenreise teilnehmen in der Regel Persönlichkeiten, die auf der Suche und offen und tolerant sind und das habe ich auch so erlebt. Darüber hinaus war für mich beeindruckend, dass fast alles, was jemand mitgebracht hatte, wie selbstverständlich geteilt wurde. In der Gruppe achtete man aufeinander, half oder ermunterte, wenn es nötig war und die Kinder waren voll integriert. Viola bewies hier besonderes pädagogisches Geschick und die Erlebnisse, die uns durch die Kinder geschenkt wurden, waren einzigartig und für mich als Lehrerin in besonderem Maße berührend und lehrreich. Eine freundliche, teilweise liebevolle Atmosphäre begleitete unsere Reise.
Neben den genannten Aspekten stand die schamanische Arbeit natürlich im Zentrum der Reise, bei der es, wie ich erfuhr, besonders darum geht zu seiner Kraft zu kommen und diesbezügliche Blockaden aufzulösen. Natürlich geht es auch um Spiritualität. Übungen dazu waren z.B. über eine Phantasiereise sein persönliches Krafttier zu finden, sowie in einer sehr eindrucksvollen Übung durch Steine einen Kraftkreis zu legen, in deren Mitte der Zentrumsstein alle Selbstversprechen eingehaucht bekam, die man in Bezug auf den Körper, seine sozialen Kontakte, seine Lebendigkeit und seine Gefühle gab. Am Ende dieser Übung sollte man einen Medizinnamen finden, der einen weiter begleitet und Kraft spendet. Diese Medizinnamen wurden von den Kindern gemalt und in einer sehr schönen Zeremonie jedem überreicht.
Ich kann und möchte nicht jedes Ritual erwähnen, hervorheben möchte ich noch eine wunderschöne Ablösungszeremonie zwischen Mutter und Tochter, sowie ein Initiationsritual dieses jungen Mädchens zur Frau, an dem selbstverständlich wieder die ganze Gruppe teilnahm. Ebenfalls herauszustellen ist ein Ereignis, was zunächst alle erschreckte. Ein Mann stürzte beim Aufsteigen von seinem Dromedar. Was in der Folge in der Gruppe ablief, berührte mich ebenfalls zutiefst. Viola erteilte nur kurz jedem entsprechende Anweisungen, um die medizinische Versorgung sicherzustellen und als das geschehen war, wurde ein Heilritual zelebriert mit Gebeten und Gesang, was sich unauslöschbar in meinem Herzen eingenistet hat. Danach konnte der Mann wieder aufstehen und von zwei Männern zunächst gestützt, später begleitet, den Weg, den wir vor uns hatten zu Fuß gehen. Wie ich erfuhr, war mit diesem Sturz die Aufgabe an ihn herangetreten sich helfen zu lassen, was ihm bis dahin schwer gefallen war.
Es gab auch Aufgaben, die mich überforderten, die mir meine momentanen Grenzen aufzeigten und die mir abverlangten, mich mit Violas Forderungen auseinander zu setzen, was mir manchmal nicht leicht fiel. Aber auch das ist ja Wachstum.
Den Abschluss bildete eine jeweils getrennte Männer- und Frauenzeremonie, die mir auch sehr nahe ging, machte sie mir mal wieder deutlich, wie schön es ist, sich mit Frauen verbunden zu fühlen und welche Kraft das spendet.
Ich hoffe, es wird deutlich, wie wunderbar und beeindruckend diese Reise für mich war. Susannah und Viola waren immer für uns präsent. Viola hat mit ihrer Phantasie und Kompetenz und ihrem unermüdlichen, kraftvollen Einsatz den Verlauf der Reise gestaltet und jede(n) Teilnehmer(in) individuell auf ihrem/seinem Weg begleitet. Viola ist authentisch, hat eine liebevoll zugewandte, aber auch burschikose Art, die mich manchmal etwas brüskiert hat.
Waltraud Moede

Eine Reise durch die Mongolei

Schon durch das Flugzeugfenster erahnt man die unendliche Weite und stille Leere dieses Steppenlandes. Braune Ebenen, umrandet von blau-schwarzen Vulkanbergen, durchzogen von silberglänzenden Wasserschlangen... und darüber der weitgespannte, helle Himmel. Wir überblicken einen Teil der Erde, der durch Tausende von Jahren seine Ursprünglichkeit bewahrt hat. Eine nur von Wind und Sonne, von Hitze und Kälte gestaltete Landschaft. Jahrtausendelang und bis heute von Tierherden und Menschen durchwandert, ohne dass diese Spuren hinterlassen hätten. Ein riesiger Naturraum, in dem die kleinen Zivilisations-Zentren keinen Einfluss gewinnen konnten. Einfach nur Natur – unverändert durch die Zeiten, geschichtslos.

Ulan Bataar, die Hauptstadt, spiegelt auf chaotische Weise den Zusammenprall vom ursprünglichen Nomadenleben, dem tristen Nachlass der russischen Besatzungszeit und den gegenwärtigen Bemühungen, mit dem technischen Zeitalter Schritt zu halten. Einfache Jurten-Siedlungen stehen neben steinernen Bankgebäuden, schon wieder dem Zerfall preisgegebene Billigwohnblöcke neben einem neuen Computer-Geschäft. Man sieht auf Stöckelschuhen balancierende junge Mongolinnen, die versuchen, durch Staub und Müll, zwischen herumwirbelnden Plastiktüten, zwischen Lastwagen und Pferden durchzukommen. Wir staunen, dass es geht!
In den Kreisstädten begegnen wir wieder diesem Bild einer Umbruchzeit. Auf dem Fleischmarkt treffen sich Ochsenkarren, museumsreife Motorräder mit Seitenwagen, würdige Männer in Stiefeln, eingehüllt in lange, mongolische Wollmäntel, an ihren Händen vielleicht Kinder in Schuluniformen. Was da zum Verkauf angeboten wird, überrascht uns immer wieder. Neben dem Salz für den Küchenalltag stehen westliche Marken-Shampoos und Parfüme, aus dem Musikgeschäft dröhnt das allerneuste: Abba-Musik! Eine Mongolenreise ist auch eine Zeitreise!

Wir freuen uns, aus der Hauptstadt bald rauszukommen. Unser Kleinbus ist vollbepackt mit sieben Menschen, viel Gepäck, mit Zelten, Essvorräten für viele Tage, Werkzeugen und Ersatzrad. Und mit einem kleinen Kochofen, den wir mit Dung betreiben werden. Schon am ersten Abend zelten wir einsam an einem Fluss. Ausser einigen Lastwagenlichtern am fernen Horizont und im Irgendwo bellenden Hunden umfängt uns bereits die Stille und die Unendlichkeit dieses Landes, die uns fortan begleiten werden. Wir begegnen aber auch bereits der Kälte, verschärft durch einen eisigen Wind. Wir reisen im September, weil dann die regenreiche Sommerzeit zu Ende sein soll und die herausfordernde Winterzeit noch nicht begonnen hat. Dieses Jahr allerdings hatte der Sommer kaum Wasser gebracht. Das Land leidet unter der Dürre.
Noch bevor wir in die schützenden Zelte kriechen, begrüßen wir auf zeremonielle Weise die Ahnen dieses Landes, erzählen ihnen, wer wir sind und was wir hier gerne erfahren möchten. Wir bitten die Ahnen und die Natur um Unterstützung. Die Reise, die wir vorhaben, machen wir einerseits ganz touristisch-neugierig, andererseits aber auch als das, was wir eine Zeremonialreise nennen. Wir bringen ja reiches, schamanisches Wissen mit, und das in ein Land, in dem das Schamanische ganz ursprünglich ist. Das Wort Schamane ist mongolischen Ursprung.
Das moderne Nomadenleben – mit Bus statt Zelten – wird fortan zu unserem Alltag. Wir lernen zusammen mit dem Wind unsere Zelte abbrechen, wie man mit steifen Fingern den wohlwollenden Morgenkaffe schlürft, und wir lernen bald einmal die einzig mögliche Art, alles in den Bus zu packen. Nach diesem Morgenritual fahren wir los. Es gibt Reisetage, wo wir Stunden um Stunden endlose Ebenen durchqueren, wir scheinen kaum voranzukommen, aber wenn wir einen halben Tag später zurückblicken, liegt die Ebene doch auf einmal hinter uns; der Bus stottert und holpert über steinige Pässe. Den Begriff Strasse muss man hier großzügig ausweiten! Es braucht Erfahrung und Instinkt, um hier den Weg zu finden. In der Mittagspause freuen wir uns auf das warme, immer vorzügliche Essen. Es wird von unserer Köchin auf dem kleinen Ofen hervorgezaubert. Dann genießen wir die wärmende Sonne.
Unsere Reiseroute führt uns zunächst Richtung Norden, an den Fuß des Altai-Gebirges. Das Altai-Gebirge! Ein geheimnisvolles Wort, das mich seit meiner Kindheit lockt. Wir staunen über die riesigen Viehherden, die meist aus Pferden, Jacks oder Rindern, Schafen und Ziegen kunstvoll gemischt werden. Friedlich weidend ziehen sie gemächlich ihre unsichtbaren Wege. Sie sind sich selbst überlassen, es gibt keine Zäune, keine Stallungen, aber natürlich gibt es Besitzer oder Hüter, die in ihren Jurten leben und mitziehen. Wir treffen auch wildlebende Tiere. Gazellenherden, die gejagt werden, und viele flinke Erdbewohner wie Springmäuse, Erdhörnchen, Mäuse und große Murmeltiere, eine Leckerei für die Jäger, gesucht wegen ihres Fettpolsters. Elstern, Geier, Bussarde, große Raben und gewaltige Adler bewohnen ganz selbstverständlich dieses Hochland.
Ich erfahre hier einen ganz neuen und überraschenden Aspekt der Tierwelt, die mich etwas Tiefes über Natürlichkeit lehrt. Sowohl die Tiere, die zur Menschenwelt gehören, wie auch die wild lebenden Tiere akzeptieren uns Fremdlinge einfach als Mitbewohner dieser Erde. Sie fliehen nicht, sie kommen aber auch nicht näher heran, sie sind einfach sich selbst, weder unterwürfig noch aufdringlich, weder aggressiv noch ängstlich. Selbst die Hunde, die jede Jurte bewachen, sind wohl respektheischende, aber immer höfliche Gesellen... wenn man sie und ihre Aufgabe respektiert. Die Tierwelt hier lehrt uns die natürliche Würde des Zusammenlebens.

Gelegentlich können wir mit unserem Reiseführer Chuluun Bekannte besuchen, die traditionell in ihren Jurten leben. Chuluun ist Professor in der Hauptstadt, hat in Leipzig studiert und ist uns ein willkommener Übersetzer der Sprachen und Kulturen. Trotz des kargen Lebens erfahren wir stets eine offen-herzliche Gastfreundschaft. Sie zeugt von der Härte und Selbstverständlichkeit ihres Nomadenlebens, wo jeder, der unterwegs ist, auf die Unterstützung anderer angewiesen ist und selbst stets bereit ist, anderen zu helfen. Der Besucher bringt etwas zum Essen für alle mit. Auf der heiligen Feuerstelle in der Mitte der Jurte wird dann gekocht. Die Gespräche sind voller Lachen und Fröhlichkeit. Zugleich sind sie direkt, schnörkellos, ohne Höflichkeitsrituale. Die rotbackigen, überraschend gesunden Kinder sind auch einfach Teil der Runde. Die Hausfrau strahlt in ihrer Selbstverständlichkeit Kraft und natürlichen Stolz aus. Sie ist Mutter, Berufsfrau, aber dazu auch einfach die Frau als Partnerin ihres Mannes. Mich hat immer wieder berührt, wie dieses Menschen es fertig bringen, sich als Frau und Mann zu begegnen und gleichzeitig Mutter- und Vaterrollen zu tragen. In all diesen Lebensformen findet sich die Schönheit des Kargen und eine präzise Nüchternheit.
Fleisch, viel Fleisch! dazu Käse, Yoghurt, Milch und wilde Beeren bilden die Grundlage der mongolischen Küche. Vieles wird getrocknet oder gekocht, um es haltbar zu machen. Die Frau besorgt das Kochen, Waschen und das Melken der Tiere. Viele Familien besitzen eine Stuten-Herde, deren Milch besonders geschätzt wird. Die Kinder hüten die Schafe und Ziegen. Und es bestätigt sich bald die Rede, dass mongolische Kinder eher reiten als laufen können! Eines oder mehrere Kinder der Familie gehen in die Schule; d.h. sie leben fern der Familie in der Stadt in einem Internat.
Die Männer auf ihren schnellen Pferden oder Motorrädern sind zuständig für die Weideplätze. Sie treiben die Herden an die richtigen Orte, leiten den Auf- und Abbau der Jurten und sind liebevolle Väter für ihre Kinder.

Jetzt im September ist Herbst in der Mongolei. Die weiten Steppen sind braungelb und die spärlichen Kräuter und Gräser erheben sich kaum mehr als zwei, drei Zehntimer aus dem Boden. Diese kleinen Kräuter müssen nicht nur sehr schmackhaft sein, sondern offenbar potenziert nahrhaft, leben doch Abertausende von Wildtieren einzig davon. Die Lärchenwälder, die zum Norden der Mongolei gehören, leuchten jetzt golden, die blauen Seen sind eiskalt und über die Weiten der Taiga pfeift schon ein ziemlich kalter Wind, unterwegs offenbar zu den schwarzen heiligen Berge.
Wir ändern unsere Reiseroute und durchqueren Tage um Tage das Land nun Richtung Süden. Unser Ziel ist die Wüste Gobi, auch das eines der verlockenden Zauberworte aus meiner Jugend: die Wüste Gobi! Jeden Morgen, wenn wir aus dem Zelt schlüpfen, wird es nun wieder ein bisschen wärmer. Unser Reiseleiter Chulum ist in einer Jurte dort im Süden der Mongolei, in der Wüste Gobi, aufgewachsen. In seinem gepflegten Hochdeutsch erzählt er uns jeden Abend Geschichten. Geschichten aus seiner Kindheit, aus der Zeit der russischen Besatzung, er redet über Land, Leute, Politik, weiß viel über die Tiere. Manchmal erzählt er auch über seine Zeit in Deutschland oder macht das bescheidene Leben als Professor in Ulan Baator anschaulich. Und natürlich weiß er alles über Sitten und Gebräuche, über die traurigen und die stolzen Zeiten der Mongolei.
Der Fahrer, ein bubenhaft fröhlicher Mensch, ein sicherer Fahrer und Führer, der uns stundenlang über die Pisten führt, die man hier Strassen nennt, über steinige Pässe und durch Flussbette, die wegen des gegenwärtigen Wassermangels nicht so bedrohlich sind, wie sie wohl auch sein können. Und immer wieder geht etwas am Bus kaputt, und er kann alles, wirklich alles reparieren. Und mit was für Werkzeugen! Er verschwindet dann für zwei Stunden unter dem Auto, zaubert oder was weiß ich, ruft die Hilfe der Geister, aber mit Gewissheit kommt er irgendwann strahlend wieder hervor und sagt: wir können wieder.
Unsere überaus begabte Köchin bereitet auf dem Dung-Ofen das köstlichste Essen. Es ist mongolisch, aber auch ein klein bisschen an unsere europäischen Magen angepasst. Was gibt es? Fleisch und nochmals Fleisch, dann Gemüse, Milchprodukte und Beeren. Jeden Tag gibt es selbstgebackenes Brot und Schwarztee. (Dass man auch vegetarisch in der Mongolei überleben kann, hat eine unserer Teilnehmerinnen bewiesen, es wurde fürsorglich für sie extra gekocht, natürlich stets viel zu viel, denn wir kann man so überleben!) Die leicht säuerliche Stutenmilch ist das absolute Lieblingsgetränk von Chuluun und dem Fahrer, wir allerdings verziehen Mund und Nase zu einer Grimasse und der Magen warnt uns augenblicklich vor weiteren Versuchen. Der Höhepunkt des Essens ist freilich das Yackjoghurt mit den wilden Heidelbeeren, ein Schuss Wodka gehört auch hinzu! Nach dieser Götterspeise lässt sich wunderbar „Ta-ta-tonga“ spielen, d.h. wir reden ausführlich und begeistert mit Mund, Händen und Füssen, erzählen uns gegenseitig die verrücktesten Geschichten und verstehen alles oder gar nichts. Und das Lachen macht das Herz weit.
Durch solche Geschichten bekommen wir beispielsweise ein ganz anderes Bild von Dschingis Kahn, als wir ihn aus unserer europäischen Sicht kennen. Er war nicht nur der erfolgreiche Eroberer, sondern auch ein weiser und fähiger Führer der Mongolen. Chulum erzählt, dass er die ersten Naturschutz- und Jagdgesetze erlassen habe, dass Dschingis Kahn die Mongolei mit einem wahren Stolz führte und ein Freund und Beschützer gewesen sei der mongolisch-buddhistischen Klöster. Und dann hören wir viele Trauriges über die russische Besatzungszeit, in der „zum Segen“ der Nomaden Wohnsiedlungen und Fabriken gebaut wurden, die Mönche aus den Klöstern verjagt oder umgebracht und die alten Klöster zerstört wurden. Und Chuluun öffnet unsere Augen für die neue, gegenwärtige Gefahr für die Mongolei: die stetige Einwanderung von Chinesen und mit ihnen ein geldwirtschaftliches Denken. Die Mongolei der Nomaden aber baut auf einem Denken im Kreislauf von Nehmen und Geben.

Auf unserer Reise besuchen wir drei buddhistische Klöster. Das erste ist von den Zerstörungen verschont worden und strahlt noch in altem Glanz und das religiöse Leben beginnt langsam wieder zu blühen. Das zweite war zerstört worden, ist aber mit Unterstützung des Staates und des Dalai Lama zum Teil wieder aufgebaut und beherbergt nun wieder eine Klosterschule. Das dritte, an einem selten schönen Platz gelegen, war anfangs des 20. Jahrhunderts dem Erdboden gleich gemacht worden. Hier haben einmal rund 6000 Mönche gelebt. Natürlich weckt das in unseren Herzen die ewige Menschenfrage, warum Menschen immer wieder andere Kulturen zerstören, deren Schönheit, deren Spiritualität weder sehen noch achten. Warum glauben wir immer wieder, die einzig wahre Wahrheit gefunden zu haben?
Der mongolische Schamanismus und der tibetische Buddhismus haben für die Bewohner der Mongolei über eine lange Zeit ein spirituelles Leben ermöglicht, weil diese beiden Formen des Wissens sich auf die schönste Weise verbunden haben in ihrer Natürlichkeit, ihrem Respekt vor dem einfachen Leben, der Heiligkeit von Erde und Himmel. Ich hoffe, dass das Wiedererwachen des alten Wissens Schritt halten kann mit der unaufhaltsamen modernen Entwicklung, dem Einzug von Technik und der Informationsgesellschaft. Dass daraus eine neue lebensfähige Verschmelzung entstehen wird.
Aber nicht nur Chuluun erzählt Geschichten, auch die Natur tut es! Das unversehrte, so offen daliegende Land spricht zu uns und weckt in unseren Körpern ein altes Wissen auf, das auch in uns Europäern noch zu finden ist. Die stillen Berge, die kargen Ebenen, der weite Himmel werden wieder unsere Lehrer. Das Land hier verändert unser Zeitgefühl, unseren Atem, unseren Blick. Vergessene Dinge werden wichtig, und was eben ganz wichtig schien, haben wir schlicht vergessen. Das Eintauchen ins Nomaden-Leben, auch wenn es im Bus stattfindet und nicht auf Pferderücken, weckt in uns die tiefe Erinnerung, Wanderer zu sein, unterwegs zu sein und nicht bloß Ziele zu haben, es nährt in uns eine große Gelassenheit und die Bereitschaft, das anzunehmen, was da ist.

In der ersten Woche wurde von Chuluun eine Begegnung mit einer Schamanin ermöglicht. Wir waren eingeladen zu einer Heilzeremonie mit Einheimischen, die in einer kleinen, heißen Hütte stattfand. Die Schamanin tanzte und sang (wie) in Trance mit ihrer Trommel – und wir ließen uns einerseits mittragen von diesem alten Ritual, andererseits verfolgten wir natürlich auch mit neugierigen Augen ihre Arbeitsweise und wollten verstehen. Ihr Trance-Lied war großartig, zum Schmunzeln dagegen ihr offenbar unstillbarer Wodkadurst. (Natürlich dürstete da der sie beseelende Geist, nicht sie!) Tief berührend aber war die atemlose Ehrfurcht der einfachen Leute während des ganzen Heilrituals. Sie waren davon ganz überwältigt. Es schien uns, dass dieses Einklingen, dieser unverbrüchliche Glauben an die Kraft der Heilerin die Voraussetzung war für das Funktionieren der Heizung. Die Schamanin heilt, der Patient bleibt Empfänger. Dass wir Europäer, die dabei waren, mehr die Selbstverantwortung für Gesund- und Kranksein und für die Selbstheilung ins Zentrum stellen, wäre diesen Menschen ganz unverständlich.

Am andern Morgen trafen wir uns zu einem Teegespräch mit der Schamanin und ihren Begleitern. Diese Einladung kam für mich überraschend und hat mich sehr dankbar gemacht: auf der Ebene der Medizinleute, die wir beide sind, haben wir uns gegenseitig mit Respekt erkannt. Wenn wir die religiösen und die kulturellen „Verzierungen“ im Geiste weglassen, dann „verstehen“ wir uns. Das heisst wir erkennen das Wirken der Kraft, das durch die Verbundenheit mit dem Grösseren möglich ist. Ich wurde aufgefordert, ihr mein Wissen, mein „Sehen“ zur Verfügung zu stellen. Sie konnte das mit grosser Offenheit annehmen; und so wurde das Geschenk für sie zugleich zu einem Geschenk für mich.
Drei und eine halbe Wochen lang waren wir unentwegt unterwegs in diesem fremden, großen Land. Wir fanden die Sicherheit in unseren Herzen und das Glück in der ständigen Veränderung des Augenblicks. Es nährte uns die uralte Kunst, mit Wind und Wetter, mit Menschen und Tieren, mit den Herausforderungen des Klimas und den Tücken des Autos auf bestmögliche Weise umzugehen. Einfach natürlich sein! Das hat uns alle ein wenig weiser, gelassener, auch mutiger und herzlicher gemacht. Der Dank gilt diesem Land, das so viele Erinnerung hütet, den Menschen, die es immer noch auf überlieferte Weise durchwandern und diese Welt als ihre Heimat gewählt haben. Danke!

Song of the rainbowsnbake, September 2002